von thalasso wave, aus
Spätgebärende Väter
Wir sind unter Beschuss! Jede Salve schlägt näher ein. Aber niemand sucht Deckung. Alle drängen sich heldenhaft nach vorne ins Sperrfeuer. Jeder Schuss ein Treffer. Aber die Reihen wanken nicht. Bis uns der vorbeiziehende Spielmannszug der KG Narrenzunft Blau-Weiss-Dingsdorf 1897 e.V. mit ohrenbetäubendem Lärm vom schweren Beschuss erlöst und wir eine Atempause erhalten, um die restlichen Süßigkeiten vom Boden aufzuheben. Ja, so ein Karnevalszug ist harte Arbeit.
Ich persönlich brauche die fünfte Jahreszeit so dringend wie ein drittes Bein. Ich lache lieber das restliche Jahr und weiß dann auch warum. Da ich aber nun mal im Rheinland lebe, gewöhnt man sich besser an den Karneval als sich eine überflüssige Prothese anzuschnallen. Obwohl das ja schon eine Verkleidung wäre.
Früher habe ich mir zum unvermeidlichen Höhepunkt der närrischen Session ein tiefes Loch gegraben und darin gewartet bis bei den Anderen der Anfall vorüber war. Aber seitdem ich Kinder habe ist es leider nicht mehr möglich, diese Krise unterirdisch auszusitzen bis alle wieder nüchtern sind. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als der Realität ins Auge zu sein - auch wenn das der Boden eines ausgetrunkenen Glases ist.
Menschen, die nicht entlang des Rheins wohnen, verstehen oft nicht, was es mit dem Karneval auf sich hat. Die dort grassierende unbegründete Freude und inhaltsleere Heiterkeit werden von nüchternen Außenstehenden oft als unheimlich, fremd oder gar bedrohlich empfunden.
Wer allerdings schon einmal zur Karnevalszeit durch fehlgeleitetes Zappen auf einem der Dritten Programme gelandet ist und dabei fahrlässigerweise eine karnevalistische Prunksitzung aus Mecklenburg-Vorpommern oder Paderborn gesehen hat, weiß, dass die überschwängliche Lebensfreude des Rheinländers von Menschen kaum verstanden wird, die das Wippen mit dem Fuß für einen gerade nicht mehr tolerierbaren Gefühlsausbruch halten.
Demgegenüber sind Fernsehübertragungen von Veranstaltungen aus typischen Karnevalshochburgen nicht unbedingt komisch, niveauvoll oder gar sehenswert. Diese Gewalttaten gegen Humor und guten Geschmack sind keinesfalls dazu geeignet, Nichtkarnevalisten das Kulturgut Karneval näher zu bringen. Allein das Absingen des veranstaltungs-typischen Liedguts treibt so manchen patriotischen Bürger spontan in die Auswanderung. Ein Beispiel:
Mer losse dä Dom en Kölle,
denn do jehööt hä hin.
Wat sull dä dann woanders
dat hätt doch keine Sinn.
Wer des typisch rheinischen Dialekts Kölsch nicht mächtig ist, benötigt eventuell eine Übersetzung der sinnreichen Lyrik. Es handelt sich um die müßige Spekulation, dass man vom Transport eines großen, lokalen Gotteshauses an eine andere, weit entfernte Stelle Abstand nimmt, da man sich der fehlenden Sinnhaftigkeit des Unterfangens bewusst geworden ist. Die philosophische Dimension und transzendente Tiefe dieses Textes wird von anderen populären Karnevalsschlagern meist nicht erreicht.
In Süddeutschland wird der Fasching oder die Fastnacht, wie der Karneval dort zuweilen heißt, noch traditioneller gefeiert. Der ursprüngliche Zweck, die Vertreibung des Winters, wird häufig durch Umzüge von Fußgruppen mit furchterregenden Masken betrieben. Angesicht der globalen Erderwärmung erscheint es jedoch unverantwortlich, durch närrisches Treiben ein vorzeitiges Ende des Winters herbeiführen zu wollen.
Im Rheinland hat man längst eingesehen, dass der Winter vor maskierten Karnevalisten keinerlei Respekt hat und zieht stattdessen auf riesigen Motivwagen Politik und Gesellschaft durch den Kakao. Das ist allerdings eine sehr ernste Angelegenheit. Die Darstellung nackter Politiker ist ebenso wenig gelitten wie ein schwuler Karnevalsprinz. Da hört der Spaß auf!
Die Narrenhochburgen Köln und Mainz ignorieren sich so gut sie können, hauptsächlich weil niemand den Dialekt des anderen versteht. Die einen sagen Alaaf und anderen Helau. Damit ist jede weitere Kommunikation zum Scheitern verurteilt.
Köln und Düsseldorf hingegen sind sich geografisch und sprachlich näher. Das macht beide Städte besonders im Karneval zu erbitterten Rivalen. Der Hauptvorwurf lautet, dass die jeweils andere Seite keinerlei Sinn für Humor habe. Mir scheint, in diesem Fall haben wohl beide recht.
Wer sich zum Schutz von Psyche und Leber den ganzen organisierten Karneval ersparen möchte, dem bleibt wenigstens noch der Karnevalszug. Hier kann man sich vergleichsweise dezent ausleben und nebenher noch allerhand Süßkram aufschnappen. Eine Pappnase gilt schon als vollständige Verkleidung.
Während früher hauptsächlich harte Kamellen gnadenlos in die wehrlose Menge abgefeuert wurden - die meist so hart waren, dass die 2 Tage bis zum Beginn der Fastenzeit kaum ausreichten, auch nur eine einzige weichzukauen, ist die Produktvielfalt des heutigen Wurfgutes nicht zu verachten: Schokolade, Chips, Blumensträuße, Kinderbücher, Popcorn, Bälle, Bleistifte, CDs, Spielzeug, Kaugummi und allerlei Sondermüll, den man sonst hätte teuer entsorgen müssen.
Eine zugereiste ausländische Türkin mit Migrationshintergrund hatte allerdings durchaus integrative Schwierigkeiten mit den spendierfreudigen Karnevalisten. Unbeholfen versuchte sie den Wurfgeschossen auszuweichen. Mit einem ihr gereichten Reibekuchen (Kartoffelpuffer für Nicht-Rhein¬länder) konnte sie so gar nichts anfangen. Wahrscheinlich hätte ich bei einer unerwarteten Konfrontation mit Söbiyet, Fistikli Dürüm, Kadayif oder Künefe auch nicht glücklicher ausgesehen.
Ihre Kinder hingegen waren voll integriert und hatten den Sinn der Veranstaltung aufgesogen. Fröhlich winkend und Alaaf rufend animierten sie die Narren zum Abliefern ihrer Waren. Mit riesigen Plastiktüten versehen entkam ihnen kaum eine Leckerei. In zwanzig Jahren werden sie vielleicht für den Vorstand eines Karnevalsvereins kandidieren. Ich hoffe, sie werden gewählt. Denn überschwängliche Lebensfreude ist nicht nur im Rheinland eine Tugend.
© 2011 www.simon-verlag.de
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