Klassentreffen
von thalasso wave, aus Spätgebärende Väter

Neulich hörte ich so ganz nebenbei, dass es jetzt doch ein Klassentreffen geben würde. Jetzt doch, weil das 10- und das 20-jährige Jubiläum wegen organisatorischen Schwierigkeiten nicht zustande kam. Kein Problem, trifft man sich eben nach 30 Jahren. Ist ja heutzutage auch viel einfacher. Im Internet bieten neue soziale Netzwerke genügend Möglichkeiten, seine Klassenkameraden wiederzufinden.

Da habe ich mich gleich mal angemeldet, nur um zu wissen, wer denn alles schon da ist. Und das ist ein Problem. An die Kumpels aus meiner Abschlussklasse erinnere ich mich noch gerade so, aber die übrigen etwa 150 aus meinem Jahrgang hinterlassen bei mir völlige Ratlosigkeit. Nach 30 Jahren nützen auch die aktuellen Fotos der ehemaligen Mitschüler wenig. Es tut, mir leid, Leute. Die meisten von Euch habe ich vergessen.

An die Zeit nach der Schule erinnert man sich viel besser, nicht unbedingt weil es noch nicht so lange her ist. Da ist mehr passiert: Ausbildung, Studium, erste Jobs, erstes Geld, erste eigene Urlaube, nicht die erste aber die größte Liebe. Man erinnert sich auch besser an Dinge die man selbst organisieren musste: Zivildienst, Umzüge, WGs. Oder das erste klapprige Auto, das man sich selbst vom Autoverwerter holte.

Die Schulzeit dagegen verlief überwiegend gleichförmig. Morgens aufstehen, in die Schule gehen, zu wenigen, zu wenig gebildeten Lehrern lauschen, heimgehen, vielleicht Hausaufgaben machen, Sport treiben, herumhängen, essen, trinken, Freunde treffen, schlafen - nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Kaum Dinge, an die man sich erinnern müsste.

Obwohl, einige Highlights gab es schon. Der jedes Jahr im Klassenzimmer aufgestellte Weihnachtsbaum, die folgenreiche Schlägerei deswegen und damit und das daraus resultierende Verbot, Klassenräume weihnachtlich zu schmücken. Die hätten ja auch nicht mit dem Baum werfen müssen. Der gestrichene Wandertag, nur weil die Klasse geschlossen ein Handballturnier besucht hatte - an Stelle der Mathestunde.

Der Mathelehrer, der seinen Taschenrechner nicht bedienen konnte. Der Französischlehrer, der immer vergaß, in welche Klasse er sollte und deshalb solange Zimmertüren aufriss, bis er einen Klassenraum ohne Lehrer fand. Den dort befindlichen Schülern wurde dann umgehend die französische Sprache nahe gebracht, auch wenn keiner das Fach belegt hatte.

Bemerkenswert war vielleicht noch die plötzlich auftretende Knappheit an Lehrerpulten an unserer Schule. Lehrerpulte hatten gegenüber Schülerbänken den entscheidenden Vorteil, von vorne nicht einsehbar zu sein und über eine Schublade zu verfügen - ideal zur Aufbewahrung von zusätzlichem Informationsmaterial während Klassenarbeiten. Deshalb saßen in unserem Klassezimmer alle Schüler an Lehrerpulten und die Lehrer mussten die Schulbank drücken. Und kein Lehrer hat das je bemerkt.

In bester Erinnerung habe ich jedoch unsere offizielle Abiturabschlussfeier mit Zeugnisausgabe. Die nahm den üblichen, sterbenslangweiligen Verlauf und endet mit einem Knall. Unser langjähriger Schulsprecher hatte sich zu seinem eigenen Abgang gewünscht eine Rede zu halten. Weil er aber einer von diesen fiesen Linken war, die seinerzeit so an Schulen grassierten, wurde ihm das verweigert, obwohl er sein vergleichsweise unverfängliches Redemanuskript vorher eingereicht hatte. So stand er während der Feier spontan auf, ging zum Rednerpult und hielt seine Rede. Oder sagen wir besser, er wollte seine Rede halten.

Ich persönlich mochten den Typ nicht, hatte immer Ärger mit ihm gehabt. Aber ich hätte zu gerne gehört, was er zu sagen hatte. Unsere Eltern nicht. Ein paar beherzte, demokratische Väter sprangen auf und zerrten den ungeliebten Redner ohne viel Federlesen aus dem Saal. Daraufhin verließ etwa die Hälfte der Abiturienten ebenfalls den Raum. Wir taten nur, was wir im Religions- und Ethikunterricht gelernt hatten und übten Solidarität mit den Geknechteten.

Die Eltern kamen daraufhin verzweifelt nach draußen, um ihre Zöglinge durch freundliches Bitten, hilfloses Flehen, offene Drohungen oder einfach Gewalt wieder in den Saal zu kriegen. Interessant zu sehen, wer ging und wer blieb. So legten die draußen Verbliebenen ein Zeugnis der Reife ab, während die im Saal eine entsprechende Urkunde erhielten.

Mir konnte es egal sein. Zum einen war mir die Luft im Saale etwas stickig geworden, zum anderen hätte ich mein Abi-Zeugnis an diesem Tag sowieso nicht bekommen. Zwar hatte ich kurz zuvor im der mündlichen Physikprüfung eine 1+ (neudeutsch: 15 Punkte) eingesackt, war aber genau genommen durchgefallen - wegen Leistungsverweigerung im Sport. Unser Sportlehrer hatte es unterlassen, Ort und Zeit der Sportprüfung ausreichend zu kommunizieren. Weshalb nur die Hälfte der Kandidaten zum Termin angetreten war. Die andere Hälfte hatte einfach unentschuldigt gefehlt, damit auch das Recht zur Nachprüfung verwirkt und war somit nach Prüfungsordnung durch das gesamte Abitur durchgefallen. Daran hätte auch ein Schnitt von 1.0 nichts geändert.

Dass gleiche so viele Schüler das Recht in Anspruch genommen hatten, nach 13 Jahren Bildung auf einen ordentlichen Abschluss zu verzichten, erschien der Schulleitung nicht weiter verwunderlich. Auch Mängel in der Informationspolitik vermochte man nicht zu erkennen. Erst nach wütenden und diesmal berechtigten Protesten der Eltern wurde den Betroffenen die Gnade gewährt, noch einmal anzutreten. Die späte Rache des auch sonst unverstandenen Sportlehrers erfolgte in der Benotung. Warum sollten erfolgreiche Vereinsspieler im Sportabitur auch mehr als ein "befriedigend" erreichen können? Aber wenigstens waren wir nicht mehr durchgefallen und unsere Zeugnisse mussten neu geschrieben werden, weshalb sie zur Abschlussfeier noch nicht fertig waren.

Jetzt habe ich mich doch an einiges erinnert. Aber es fällt mir immer noch schwer, die Namen und Gesichter zuzuordnen. Was, wenn ich zum Klassentreffen hingehe und ich erkenne niemanden? Oder niemand erkennt mich. Vielleicht sollte ich gar nicht erst hingehen?

Vor Jahren schon habe ich die Namen meiner Klassenkameraden im Internet gesucht und wenig gefunden. Auch die Revolutionäre von damals haben offensichtlich den langen Marsch durch die Institutionen angetreten und ins bürgerliche Lager gefunden. Wahrscheinlich die ganze Palette: Job, Heirat, Kinder, Hausbauen, Klimakiller in der Garage. Dabei hatten doch manche mit alternativen Lebensformen und einer künstlerische Karriere geliebäugelt. Wir sind dann doch nicht die Leute geworden, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Wir sind die Leute, vor denen wir unsere Eltern immer gewarnt haben.

Was aber erzählt man sich nach 30 Jahren? Was sagt man nach den ersten Begrüßungsfloskeln? Wie lange wird es dauern, bis jemand das unvermeidliche "Was machst denn so?" absondert? Früher war das gar nicht so wichtig. Mit 15 Jahren wollte man eher wissen: "Was trinkst denn so?", später "Was rauchst denn so?" oder "Was nimmst denn so?" Mit 40 traut man sich eher nicht zu fragen "Was hast denn so?", will aber genau das wissen.

Mit 50 Jahren ist es fast schon egal, was man macht oder hat. Viel wichtiger scheint, wie man dafür entlöhnt wird: "Was kriegst denn so?" Ab der Rente wollen wir nur wissen: "Was guckst denn so?" oder später "Was hast denn so?", wobei diesmal nicht das Eigentum, sondern eher die Gesundheit gemeint ist. Noch später werden selbst die Krankheiten uninteressant, sondern eher was man dagegen verschrieben bekommt: "Was nimmst denn so?" Womit der Kreis sich schließt.

Die Frage, ob ich hingehe oder nicht, hat sich dann ganz von selbst entschieden. Rein zufällig traf ich einen ehemaligen Klassenkameraden. Wir schwärmten von den alten Zeiten, den lustigen Begebenheiten und lästerten über Lehrer und Mitschüler, deren Namen uns einfach nicht mehr einfallen wollten. Aber nach einer kurzen Umschreibung von Personen und Umständen, wusste der jeweils andere sofort wer gemeint war. Bis unsere Geschichten plötzlich auseinander drifteten. Durch gezieltes Nachfragen fanden wir heraus, dass wir gar keine Klassenkameraden waren. Wir waren nicht einmal auf derselben Schule gewesen, geschweige denn in derselben Stadt aufgewachsen. Wir hatten uns erst später an der Universität kennengelernt. Aber ein bemerkenswert großer Teil unserer Schulerinnerungen war zum Verwechseln ähnlich.

Deshalb werde ich auf jeden Fall zum Klassentreffen gehen. Damit ich mich wieder an die Menschen erinnern kann, die ich einmal gekannt habe.

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