von thalasso wave, Erstveröffentlichung 2010
Mir ist die Gans ganz angebrannt!
Die Verwandtschaft ist schuld! Es gibt mir immer ein gutes Gefühl, wenn jemand anders schuld ist. Nur deshalb schaue ich mir politische Diskussionen im Fernsehen an. Ich liebe es, wenn der einzige Inhalt ist, dass die Schuld für alles die jeweils andere Seite trägt. In diesem Fall die Verwandtschaft, weil sie sich bei uns zu Weihnachten eingeladen haben. Kurzfristig.
Also direkt los und alles bestellen, damit die mir zum frohen Fest nicht verhungern würden. Gans gab's nicht mehr, hätte man früher bestellen müssen. Gänsekeulen auch nicht. Nur Gänsebrust ging noch. Die bleibt meist übrig, weil alle immer Gänsekeulen haben wollen. Problem gelöst. Noch Gemüse und Kartoffeln dazu und Rotkohl aus dem Glas, fertig war die Laube, also das Essen.
Bis dahin war auch alles gut gelaufen. Ich hatte vier Stunden in der Küche eingeplant und den Zeitablauf großzügig kalkuliert. Wenn die bucklige Verwandtschaft zur Tür hereinschneite, stand schon alles auf dem Herd. Nach der Begrüßung und dem üblichen Austausch der Unhöflichkeiten bliebe noch genügend Zeit, den Fraß auf den Tisch zu zaubern und alles war gut.
Damit die Mischpoke auch zufrieden war, hatte ich mir extra auf www.ich-bin-der-Chefkoch.de ein von führenden Fernsehköchen empfohlenes Gänsebrust-Rezept heraus gesucht. Zuerst alles kleinschneiden, damit man später nicht in Stress geriet. Der Stress kam ganz von selbst, spätestens als ich feststellen musste, dass die beiden Gänsebrüste nicht in den Bräter passten.
Zu diesem Bräter hatte ich sowieso ein sehr gestörtes Verhältnis. Aus gutem Grund benutzte ich ihn nur, wenn es gar nicht anders ging. Wenige Tage vor ihrem Ableben rief mich meine angeheiratete Oma 2. Grades väterlicherseits an, um mir zu versichern, dass von allen Enkeln und Urenkel ich ihr immer der liebste gewesen sei - von allen 37. Deshalb wolle sie mir noch zu Lebzeiten ihren großen schmiedeeisernen Topf vermachen. Ich vermutete, dass die anderen 36 auch nicht kochen konnten, aber ich wenigstens Ambitionen auf diesem Gebiet zeigte und damit auch den Topf verdient hatte.
Also setzte ich mich sofort in die Bahn und fuhr 650 Kilometer an Omas Sterbebett. Leider war sie schon zu den Ahnen abgeritten als ich ankam und Enkel Heinz-Karl-Rüdiger hatte, wie ich später erfuhr, bereits vorsorglich den alt-ehrwürdigen schmiedeeisernen Topf gegen ein Modell aus dem Baumarkt ausgetauscht. Der hätte auch bei uns nur 19,95 gekostet. Heinz-Karl-Rüdiger versteigerte den Original-Topf bei Ebay und bekam noch 230 dafür. Die Veräußerung wertvoller Familienerbstücke verurteile ich aufs Schärfste und außerdem hätte ich einen Hunderter mehr heraus geschlagen.
Auch der Baumarkt-Bräter erwies sich als zu klein. Ich durchforstete noch einmal das Internet nach Gänsebrust-Rezepten und vermied knapp www.Rezepte-suchen-und-dabei-abgezockt-werden.de. Schließlich hatte ich die Eingebung: die eine Gänzebrust kam in den Bräter und die andere im Römertopf in den Ofen. Letzteres war keine große Sache. Römertopf einweichen, Gänsebrust waschen, trockentupfen und mit Salz, Pfeffer, Beifuss, Thymian und Kümmel würzen. Mit der Brust nach untern in den Römertopf, gehackte Sellerie, Möhren und Staudensellerie darüber und zum Schluss mit Gänsefond auffüllen, Finger waschen. 2 Stunden bei 180° in den Ofen, danach den Deckel abheben, die Brust nach oben drehen und weitere 20 Minuten knusprig garen. Fertig.
Das Malheur passierte mir bei der zweiten Gänsebrust. Zubereitung wie oben, aber diesmal mit Thymian, Rosmarin und Salbei. Für den Fond Charlotten, Champignons, Kräuterseitlinge (Steinpilze gab's nicht), Staudensellerie, getrocknete Tomaten und zwei Knoblauchzehen hacken. Butter und Olivenöl in den Bräter, Gans auf die Brust legen und 10 Minuten anbraten. Da klingelte das Telefon. Man teilte mir mit, dass man noch Tante Wilgunde mitbringe. Auf einen mehr oder weniger käme es ja nicht an und die Ärmste sei ja so allein. Recht so war mein ersten Gedanke, der nicht einen mehr oder weniger betraf.
Man muss wissen, dass Tante Wilgunde die Mutter von Heinz-Karl-Rüdiger und seinem ebenso missratenem Bruder Thomas-Michel ist. Deren mittlerweile glücklich verblichene Vater, immerhin stellvertretender Chef der städtischen Müllabfuhr, war uns durch seine beruflichen Erfolge stets ein großes Vorbild, vor allem durch die ständigen diesbezüglichen Hinweise seinerseits. Seine ebenso vorbildlichen Söhne hatten trotz eines IQs über 130 (Vergleich mit Einstein: 125), der ebenso beständig erwähnt wurde, wegen der Unfähigkeit der Pädagogen auf weiterführende Schulen auf die Segnungen der humanoiden Bildung weitgehend verzichten müssen und eiferten ihrem Vater nun als Müllwerker nach. Im Grunde ein ehrbarer Beruf, zumindest bis die Beiden, wohl durch irgendwelche Beziehungen, dort tätig wurden.
Das alles ging mir durch den Kopf und stürzte mich in eine tiefe Depression. Die ganze Geschichte musste ich mir in einer knappen Stunden noch einmal anhören und vor allem, dass sie doch so allein sei, seit dem der Gatte hinweg gerafft wurde und die Söhne so weit entfernt wohnten. Ja, 17 Kilometer sind weit. Ich würde Tante Wilgunde nicht einmal an Weihnachten besuchen, wenn sie ein Stockwerk tiefer wohnen würde. Ganz einfach weil sie eine selten dämliche Kuh war und man sich grundsätzlich schämen musste, wenn sie den Mund aufmachte.
Da zog ein durchdringender Geruch in meine Nase. Das Fett war zu heiß geworden und die Gänsebrust angebrannt. Ich komplettierte die Katastrophe noch mit dem Versuch, das heiße Fett mit dem bereitstehenden Gänsefond abzulöschen. Der Herd explodierte förmlich in einer Wolke aus Dampf und Fett. Nachdem alles abgekühlt und aufgewischt war, versuchte ich das Beste draus zu machen. Ich probierte alle Tricks auf www.wie-rette-ich-angebrannten-Braten.de, aber nichts davon wollte wirklich helfen.
Schließlich trat ich die Flucht nach vorne an. Ich kehrte zum ursprünglichen Rezept zurück, machte alles wieder heiß, kippte die Pilze und Zwiebeln ins dunkle Fett und füllte mit Brühe und Weißwein auf. Deckel drauf und eine Stunde schmoren. Danach das Tier wenden und noch eine halbe Stunde garen. In der Zwischenzeit machte ich die Kartoffelklöße mit Pilzen und Petersilie und erwärmte schon mal den Rotkohl mit Apfel und Cranberrys. In der halben Stunde, die noch bis zum Zubereiten der Soße verblieb, hackte ich mich schnell in alle relevanten Rezept-Seiten im Internet ein und hinterließ dort das berühmte Rezept "Schwarze Gänsebrust a la Toskana" als sei es schon immer da gewesen. Als Autoren benannte ich die ebenso berühmten Fernsehköche Clemens Wilmenrod, Jamie Oliver und Tim Mälzer, die diesen Klassiker in einer gemeinsamen Anstrengung in die Neuzeit gerettet hatten.
Als die lästigen Verwandten eintrafen, meinten sie einen Brandgeruch erwähnen zu müssen. Ich verwies auf das offene Fenster und die jahreszeitlich bedingten Waldbrände in der Nähe. Auf den verwunderten Einwurf: "Bei Minus Zehn Grad?" erwiderte ich nur "Klimawandel" und zuckte mit den Schultern.
Für die Soße goss ich jeweils einen Teil des Fonds mit ein wenig Fett ab, pürierte alles und kochte es mit einem Stück Butter kurz auf. Beim Servieren erklärte ich die Gerichte und welche berühmten Köche sie ersonnen hatten. Die verbrannte Gänsebrust war von sehr intensivem Geschmack und prompt ein voller Erfolg. Jeder wollte das Rezept haben. Es war mir ein Leichtes, dieses mal eben schnell aus dem Internet auszudrucken.
Das war vor fünf Jahren. Inzwischen feiern wir Weihnachten ohne Verwandtschaft und mit unseren Kindern. Und natürlich den Krankheiten, die diese aus dem Kindergarten mitgebracht haben. Dieses Jahr geben wir uns trockenen Reizhusten und Mittelohrentzündung. Die Gänsebrust haben wir immer noch im Programm, gehen aber während der Zubereitung nicht mehr ans Telefon.
Letzte Woche waren wir beim Italiener ums Eck. Der Chef persönlich pries uns mit salbungsvollen Worten eine Spezialität aus seiner Heimat an: "Schwarze Gänsebrust a la Toskana". Seitdem gehen wir nur noch zum Chinesen.
© 2010 www.simon-verlag.de
Schwarze Gänsebrust a la Toskana
(Rezept für 4 unliebsame Verwandte)
1 Gänsebrust mit Knochen
1 Glas Gänsefond (400 ml)
¼ Liter Weißwein oder Rosé
1 Teelöffel Thymian
1 Teelöffel Salbei
½ Teelöffel Rosmarin
2 Knoblauchzehen
4 Charlotten
200g Champignons
4 Stangen Staudensellerie
300g Kräuterseitlinge oder Steinpilze, falls das Geld reicht
10 getrocknete Tomaten
Butter, Olivenöl
Crema di Balsamico
ein Bräter mit Deckel, möglichst gusseisern
Die Pilze mit einem Tuch oder einer Gemüsebürste putzen (nicht waschen) und in kleine Würfel (ca. 1 cm) schneiden. Die Gewürze fein hacken oder durch eine Gewürzmühle drehen. Den Staudensellerie waschen und auch in kleine Stücke schneiden. Die getrocknete Tomaten ebenfalls in kleine Stücke schneiden. Die Charlotten, ja wer hätte es gedacht, klein schneiden. Und auch noch den Knoblauch. Wenn das elende Gehacke und Geschneide endlich mal eine Ende hat, den Weißwein probieren.
Das Spülbecken säubern. Danach die Gänsebrust darin abspülen und trocken tupfen. Zum Würzen in eine Schüssel geben und mit ordentlich Salz, mäßig Pfeffer und den gehackten Kräutern einreiben. Und noch mal Finger waschen und das Spülbecken säubern (jedes 10. Geflügel ist mit Salmonellen belastet).
Ein wenig Butter und ein paar Tropfen Olivenöl in den Bräter geben und erhitzen. Wenn es anfängt zu qualmen, die Gans mit der Brust in das heiße Fett legen und 10 Minuten anbrennen lassen. Danach den Bräter vom Herd nehmen und einen Großteil des ausgetretenen Fetts abschöpfen und aufbewahren, um es später wegzuwerfen.
Den Bräter wieder auf den Herd stellen und Pilze, Staudensellerie, Knoblauch, Charlotten sowie die getrocknete Tomaten zugeben. Mit Gänsefond und Wein auffüllen. Deckel drauf. Bei mittlerer Hitze 1 Stunden schmoren. Die Gänsebrust dann wenden und eine weitere halbe Stunden garen.
10 Minuten vor Ende der Garzeit den Deckel abnehmen. Einen Teil der Brühe mit etwas Gemüse und Pilzen herausschöpfen und in einen kleinen Topf geben. Die Brühe pürieren. Ein Stück Butter dazu geben und kurz aufkochen. Mit Salz, Pfeffer, Muskat und Crema di Balsamico abschmecken. Vorsichtshalber auch den Weißwein noch einmal abschmecken.
Die Gänsebrust im Bräter servieren (Vorsicht, heiße Henkel!) und am Tisch vom Knochen lösen. Als Beilagen Knödel mit Pilzen und Petersilie und Rotkohl mit Apfel und Cranberrys (ersatzweise Rosinen). Die Pilze und das Gemüse mit einem Schaumlöffel herausheben und ebenfalls als Beilage verwenden.
Variante: Braune Gänsebrust a la Toskana
(Rezept für 4 nette Verwandte oder solche, von denen noch eine Erbschaft zu erwarten ist): Einfach das Fett nicht zu heiß werden lassen und nicht telefonieren während der Zubereitung.
© 2010 www.simon-verlag.de
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