von thalasso wave, Erstveröffentlichung 2014
Ich bin wieder jung! Um zu verstehen, wie dramatisch diese Aussage ist, muss ich denke ich, ein paar Dinge erklären. Zum Beispiel, dass ich gerade mal 55 geworden bin. Das ist jetzt nicht so richtig alt, angesichts der Tatsache, dass Sir Run Run Shaw, der uns als Produzent immerhin den legendären Film "Bladerunner" beschert hat, unlängst verstorben ist, aber im zarten Alter von 107 Jahren. Das hat man dann davon, wenn man mit 104 in Frührente geht. Jetzt ist 55 aber auch nicht mehr richtig jung. Selbst auf der Ü30-Party, der tanzbaren Resteverwertung, wird man da schon für den Hausmeister gehalten.
Und mal ganz ehrlich, auch wenn man ständig betont, man sei nur so alt wie man sich fühlt, dann kommt einem manchmal dieses Gefühl verflucht alt vor. Mit 16 überschreitet man angeblich den Höhepunkt seiner Intelligenz, ab Mitte 30 geht es auch schon körperlich bergab. Wenn das stimmt, ist die Bevölkerung noch viel stärker überaltert, als man bisher auf Grund der Zahlen annehmen konnte. Schaut man sich die durchschnittliche Cleverness und Fitness der Bevölkerung so an, so müsste der Altersdurchschnitt bereits deutlich über Hundert liegen.
Tatsache ist, dass ich mit Mitte 40 meine geliebten schweißtreibenden Sportarten aufgeben musste, um meine angeschlagenen Gelenke zu schonen. Zehn Jahre später ist es dann auch mit der Ausdauer dahin. Die erste Viertelstunde nach dem unvermeidlichen morgendlichen Aufstehen verbringe ich damit, meine Wirbelsäule so zu sortieren, dass sie den Tag übersteht. Da fühle ich mich alt, egal wie jung ich mich denke.
Zum Glück hat man ja Freunde, die einem zum Geburtstag höflich verschweigen, dass man nicht nur älter geworden ist, sondern auch entsprechend aussieht. So wie Johnny Depp in "The Lone Ranger", was aber natürlich nur eine Verbeugung vor Dustin Hofmann in "Little Big Man" ist, aber das entgeht den Popcornfressern von heute natürlich. Weshalb vielen der Ranger-Film wohl auch nicht gefiel. Alle hatten wohl "Fluch der Karibik" im Sattel erwartet und dann blieb ihnen das Popcorn im Halse stecken. Nur weil der Film eine Geschichte erzählt, die tatsächlich so passiert sein könnte. Und die heroische Eroberung des amerikanischen Westens als miesen kleinen Völkermord verklärt. Für so was würde die UN heute Truppen schicken.
An manchen Tagen jedoch verhilft einem der ungefragte Rat von Fremden zu einem gänzlich unerwarteten Hochgefühl. Das passierte mir als ich aus dem Kino kam. Ich hatte mir zusammen mit den Kindern "Belle & Sebastian" angesehen. Den Film verkaufen sie als Kinder- und Hundegeschichte, er ist aber weit mehr. Einige gute Portionen Natur-, Melo-, Psycho- und Kriegsdrama sind auch noch dabei. Damit ist er für die Altersklasse, für die er konzipiert ist (freigegeben ohne Altersbeschränkung) eher ungeeignet, sondern was für die ganze Familie. Gut, dass es ein französischer Film ist. Disney hätte das bestimmt versaut.
Ich mag Disney-Filme, aber ich mag nicht diese Gier, mit der Disney versucht, den letzten Cent aus uns rauszuquetschen. Jeder Film wird vermarktet bis zum Erbrechen. Im immer gleichen Rhythmus kommen neue, überarbeitete Versionen der alten Klassiker auf den Markt, die teurer und manchmal schlechter sind als das Original. Hauptsache verkauft. Der normalen Version folgen die Digital Edition, Remastert, mit neuen, aber sinnlosen Szenen, der Final Cut, die Premium Edition, die Ultimate Collection, mit Untertiteln und Audiokommentaren von jemandem, der es besser für sich behalten hätte. Der Director's Cut geht tief in das hilflose Fleisch des Käufers, dem man immer wieder dasselbe in einer neuen Verpackung verkauft. Von Seiten des Kunden ist das schon digitale Demenz.
Aus dem wunderbaren "Ratatouille", der als Film noch 111 Minuten auf die Waage bringt, wird als Hörspiel eine 47-minütige Kurzfassung, in dem viele Szenen fehlen, Handlungsstränge in Leere laufen und der Schluss ganz einfach weggelassen wird. Vermutlich um Produktionskosten zu sparen. Da hätten selbst Rapunzel die Haare zu Berge gestanden. Würde Walt Disney heute noch leben, hätte ihn sein Management längst verkauft.
Aber ich komme vom Thema ab. Mit den Kindern ins Kino zu gehen ist auch eine Methode jung zu bleiben. Und eine prima Ausrede, schöne Filme zu sehen. Den Heimweg trat ich alleine mit dem Fahrrad an, da die Kinder noch andere Pläne hatten. Für das Verständnis der folgenden Szene muss man wissen, dass Bonn eine geteilte Stadt ist. Nicht so wie es Berlin war, nein, viel schlimmer. Bonn wurde schon vor gefühlten 2000 Jahren in den Köpfen der Bewohner geteilt. Der Rhein zerschnitt die Stadt in linksrheinisch, also Bonn und rechtsrheinisch eben Beuel, die "Schäl Sick". Was so viel wie die falsche Seite bedeutet. Genaugenommen gilt das für die jeweils andere Seite des großen Flusses, aber im Sprachgebrauch ist die falsche Seite eben rechtsrheinisch.
Diese Teilung ist aber keineswegs vollständig, zumindest seit der Erfindung der Brücke. Bonn hat davon gleich mehrere, welche die beiden Seiten mehr oder minder komfortabel miteinander verbinden. Aber diese eine Brücke, die die Innenstadt mit Beuel verbindet wird vom rheinischen Betrachter eben nicht als Verbindung oder gar Abkürzung wahr genommen, sondern eher als steiles Hindernis. Da die Brücke beinahe ebenerdig beginnt, in der Mitte aber die erforderliche Höhe für die ungehinderte Durchfahrt der Schiffe auf dem Rhein erreichen muss, ist sie ein wenig steil. Es macht durchaus Mühe auf die andere Seite zu kommen. So viel Mühe, dass die ansässigen Ureinwohner den über 7 Km südlich liegenden Stadtteil Bad Godesberg schon beinahe als näher gelegen empfinden, als Beuel auf der anderen Seite des Flusses. Es ist der Rhein, nicht der Amazonas. Man kann das gegenüberliegende Ufer selbst bei schlechtem Wetter sehen.
Ich muss so weit ausholen, damit man versteht, dass man mit dem Fahrrad gerne etwas Anlauf nimmt, um die Brücke zu überqueren, um nicht vor der Mitte des Bauwerks keuchend und mit zittrigen Knien absteigen zu müssen. Trotz meines beinahe fortgeschrittenen Alters komme ich noch ganz gut über diesen Hügel aus Stahlbeton, aber ein bisschen Schwung kann nicht schaden. Die Besteigung aller sieben Gipfel des Siebengebirges mit dem Mountainbike innerhalb eines Tages durch meine Wenigkeit liegt doch schon 30 Jahre zurück. Heute wäre das ein YouTube-Hit. Damals war es furchtbar nervig, weil man von allen Spaziergängern als Raser beschimpft wurde.
Im Gegensatz zu vielen Bonnern schreckt mich die Brücke eher nicht. Das Problem liegt an anderer Stelle, nicht auf der Brücke sondern kurz davor. Genau da, wo die Autos rechts auf die Brücke abbiegen. Die haben da zwar so ein fettes acht-eckiges Schild, das abruptes Anhalten und umsichtiges Beobachten des fließenden Verkehrs anmahnt, aber wen interessiert das schon, wenn man mit 177 PS auf die andere Seite des Flusses rasen möchte. Kurz, statt anzuhalten nimmt mir so ein fetter Audi die Vorfahrt und ich lege eine Vollbremsung hin. Im letzten Moment bremst der Audi dann doch noch, ich mache einen kurzen Schlenker um seine Motorhaube, mache gewiss ein freundliches und überaus verständnisvolles Gesicht und verleihe meiner Freude über die erzwungene sportliche Einlage und den Test meiner Reaktionszeiten verbal Ausdruck.
Nein, ich bin nicht beleidigend. Es ist eher ein Stoßseufzer, den ich der Vollständigkeit halber absondere, um die überwiegend fehlende Vernunft unter Erdenbürgern anzumahnen: "Oh, Mann!" Damit ist die Sache für mich erledigt. Nicht jedoch für den Audi-Fahrer. Während ich mich auf dem Radweg ohne Schwung die Brücke hoch kämpfe, bremst neben mir der Audi. Die Scheibe geht runter und der Fahrzeugführer hält eine Ansprache:
"Man kann Sie gar nicht sehen!"
Das verwundert mich allerdings. Ich trage helle Kleidung, mein Fahrrad ist rot und ich fahre mit Licht, obwohl es noch gar nicht dunkel ist. Nein, nicht irgendeine trübe, flackernde Funzel. Halogenlicht mit Standlichtfunktion, gestern erst eine neue Birne eingeschraubt, gespeist von einem soliden, rutschfesten Nabendynamo. Von Reflektoren an allen vier Seiten ganz zu schweigen. Auch bin ich nicht gerade klein und zu meinem Leidwesen alles andere als ein Strich in der Landschaft. Eher so eine Fläche. Wer mich nicht sieht, hat offensichtlich woanders hingeschaut. Diese Botschaft übermittle ich brüllend dem Schritt-fahrenden, den kompletten Verkehr aufhaltenden Blinden im Audi.
Der Audifahrer ist damit gar nicht zufrieden und mault weiter. Aber es will ihm einfach nicht in den Sinn, warum er schuld sein soll sondern nicht irgendwie ich. Das sind die Leute, die man wirklich nicht als Chef haben möchte. Nach seinem Auto zu urteilen ist er aber einer. Während ich weiter die Brücke rauf keuche, rufe ich ihm zu, er solle endlich weiterfahren und lieber auf den Verkehr achten. Doch da trifft den Nörgler die Kraft der kosmischen Erleuchtung. Plötzlich und unvermittelt weiß er, warum ich an allem Schuld bin:
"Sie sind zu schnell gefahren!"
Ich wäre vor Lachen beinahe vom Fahrrad gefallen. Diesmal erwidere ich nichts und fahre einfach weiter. Statt mich über so viel Dreistigkeit aufzuregen überkommt auch mich die universelle Einsicht. Ein zufriedenes Lächeln umspielt meine Gesichtszüge. Ich sollte den Audifahrer zur Vollbremsung veranlassen, ihn aus dem Wagen zerren und ihm auf Knien danken. Aus Gründen der Verkehrsicherheit und aus Rücksichtnahme auf den nachfolgenden Verkehr lasse ich statt dessen den entnervten Fremden von dannen ziehen, halte auf dem höchsten Punkt der Brücke an und atme tief und entspannt die Abgase ein.
Von einem, der es offensichtlich nicht gut mit mir meint und schon deswegen als unvoreingenommen gelten muss, weiß ich nun: ich bin ein Raser! Genau wie damals. Ich bin wieder jung!
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