von thalasso wave, Erstveröffentlichung 2012
Jetzt kam es allein auf mich an. Jeder Schritt musste sitzen, jeder Fehltritt das Verderben. Es war nicht leicht den kleinen Wagen mit Wasser, Verpflegung und Zelten zu ziehen. Immer wieder sanken die winzigen Räder tief in den Sand ein. Die Sandwüste war noch der einfachste Abschnitt. Danach unter der sengenden Sonne durch die Felsen. Der Trampelpfad war gut zu sehen, besonders die Stellen, die für den Wagen zu schmal waren. Hunderte, vielleicht Tausende waren hier schon durch gekommen, um ihr Glück zu suchen. Nicht jeder hatte es gefunden.
Immer wieder musste ich scharfkantige Gesteinsbrocken mit den bloßen Händen aus dem Weg räumen. Hier wurde einem nichts geschenkt. Hier hatte niemand etwas zu verschenken. Am Wegesrand nur noch, was die Unglücklichen vor uns zurück gelassen hatten. Nichts von Wert, sinnlos es aufzuheben.
Die Felsen wichen dem Sumpf. Keine Spur von Schatten. Der Pfad, kaum breiter als der Wagen, bahnte sich durch die vermoderten Pflanzenteile. Ein falscher Schritt und alles wäre im Morast versunken. Wenigstens der Boden weich und federnd. Eine Wohltat für die Füße, aber der Wagen kam nur langsam voran. Schweiß lief mir in die Augen, der Wagen kaum noch zu halten. Danach die Steinwüste.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Der Schweiß lief mir in die Augen und vernebelte die Sicht. Trotzdem erkannte ich den Gegner sofort. Den Hut tief in die Augen gezogen, die Haut wie verbranntes Leder, der ganze Körper unter Spannung. Eine Auseinandersetzung war unvermeidlich. Jetzt galt es. Er oder ich.
"Zieh, Fremder!" brüllte er mich an.
"Wie bitte?" Ich musste versuchen Zeit zu gewinnen.
"Sie müssen ziehen!" raunte er.
"Ich muss überhaupt nichts!"
"Ziehen ist doch viel einfacher als Schieben!"
"Sie haben ja überhaupt keine Ahnung!"
"Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock, das Ziehen einfacher ist!"
"Woher wollen denn ausgerechnet Sie das wissen?"
"So was weiß man doch!"
"Völliger Blödsinn! Ich ziehe diesen Kinderwagen schon seit Wochen drei Buchten weiter zum FKK-Strand und ich kenne hier jeden Stein und jeden Untergrund. Ich weiß sehr genau, wo ich den Buggy bequem schieben kann und wo nicht. Aber trotzdem kommt mir jeden Tag mindestens ein Volldepp ohne Kinderwagen entgegen, der meint er müsse mir unbedingt erklären, wie ich das Ding zu fahren habe. Ich komme sehr gut damit zurecht, aber jeder unterbelichtete Intelligenzallergiker, der nicht die leiseste Ahnung von gar nichts hat, meint mich ungefragt belehren zu müssen, wie ich das zu machen habe."
"Ich meine es doch nur gut! Da muss man doch nicht gleich so ausfallend werden!"
"Machen Sie sich vom Acker, Sie stehen im Weg!"
Es war ein hartes Stück Arbeit und es erforderte den ganzen Menschen, den Kinderwagen bis zum Nacktbadestrand zu ziehen. Angekommen gab es oft Applaus von jenen, die es mit weniger Gepäck geschafft hatten. Zeit zum Entladen: Badematten, Sonnenschirme, Handtücher, Schnorchel, Schwimmflügel, Solarpanel, Kühlbox, Grill, Generator, Ghettoblaster, Klappstühle, Kekse, Obst, Sandwiches und Zitronenlimonade. Nur fürs Kind war kein Platz mehr. Hat jemand zufällig das Kind gesehen?
Diesen wunderbaren Strand kann man nur zu Fuß oder mit dem Boot erreichen. Ein Boot zu leihen kostet in der Stunde so viel wie ein Auto den ganzen Tag. Obwohl so ein Boot nur ein Bruchteil eines Autos kostet und bei guter Pflege wenigstens doppelt so lange hält. Jede Wüste hat ihre Geier, Strandwüsten besonders.
Den Kinderwagen über all die Unebenheiten und durch den Sand zu ziehen, ist nicht das Schlimmste. Die hilfreichen Kommentare, vor allem die ungefragten, geben einem den Rest. Wer fragt, ob er helfen kann, kann's nicht. Allen voran der schadenfrohe Sympathisant: "Janz schön schwer, wa?"
"Dös iss ja nüch eenfach, oder?" Darauf antworte ich so oder sinngemäß: "Solange einem die Sonne nicht das Hirn verdörrt hat, geht's schon!"
Noch schlimmer die unerwünschten freiwilligen Helfer: "Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?"
"Nein, vielen Dank! Wenn ich das schwere Scheißding tragen müsste, würde ich mir bestenfalls den Rücken verrenken, auch wenn einer mit anpackt! Ich schiebe lieber!"
"Oh, kein Problem. Wo soll ich denn anpacken?"
Aber dann gibt es noch die mitfühlenden Sackgesichter: "Da haben Sie sich aber viel vorgenommen mit dem Kinderwagen, oder?"
Was soll man dazu sagen? Einfach mal den Ball zurückspielen: "Das ist doch wirklich nichts! Mit dem Buggy waren wir schon auf dem Mount Everest!"
Jetzt ist perfektes Timing erforderlich. Natürlich glaubt das niemand. Deshalb muss man exakt im richtigen Moment nachsetzen. Die Mimik des Gegenübers genau beobachten. Nur nicht zu Wort kommen lassen. Wenn der ungläubig verblüffte Gesichtsausdruck dem massiven Zweifel weicht, jetzt einen draufsetzen: "Natürlich nur bis zum zweiten Basislager!"
Jetzt ist der Vorlaute in der Falle, weil das Ganze so absurd ist, dass ihm absolut nichts mehr einfällt. Trotzdem öffnet er leicht den Mund, um was Sinnloses abzusondern. Genau die rechte Zeit, um den finalen Stoß zu platzieren: "Weiter oben haben wir die Babytrage genommen!"
Danach kann man endlich am Strand entspannen.
© 2012 www.simon-verlag.de
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